Wir gehen nicht mehr auf die Straße. Facebook ist das Revier unserer Generation. Trotz massiver Datenschutzverletzungen wenden wir uns ihm zu, wie einem sich unserer Liebe verweigernden Vater. Woher kommt diese Macht, die uns erstarren lässt? Sind wir wirklich so jung und frei, wie wir uns gerne sehen wollen? Von Laura Nunziante (wyme).
Steffi M. liegt am Strand. Neben ihr liegt Lenni. Lennis Windel ist voll, das sehen wir auf dem Bild; er hat einen Pickel auf der Stirn. Beide lächeln in die Kamera, sie schließen die Augen vor dem Sonnenlicht. Dieses Bild ist bezeichnend: Wir alle verschließen die unseren vor der Realität.
Denn real ist nur das, was das Netz verstärkt. Der Uniabschluss? Egal. Es sei denn, ich bekomme dafür 87 Likes. Meine Beziehung? Eure Kommentare formen meine Liebe zu dir. Wenn ich Justin Timberlake auf der Straße treffe und kein Selfie mit ihm poste, habe ich ihn dann wirklich getroffen?
Unsere bürgerliche Existenz wäre bedroht, zögen wir uns digital zurück. Dabei ist es unerheblich, ob unsere Rechte mit Füßen getreten werden: Auf meinem Profilbild sehen meine Brüste groß aus. Das ist zumindest die Logik derer, die nichts zu verbergen haben. Schlimmer noch, sie wollen nichts verbergen. Wie aufregend mein Leben, mein Job, mein Sex ist – in der neuen Welt obliegt dies der Währung der Daumen.
Jedes Jahr an meinem Geburtstag, denke ich nach dem Aufwachen darüber nach, was ich dazu posten werde. Geschenke und Karten fotografiere ich akribischer als die Spurensicherung einen Tatort. Ohne Beweise, keine Täter.
Schon lange vor einer Reise denke ich darüber nach, welche Bilder ich hochlade, um den anderen meine Erfahrung näher zu bringen. Mir selbst ist sie längst abhanden gekommen.
Die anderen. Wer ist das eigentlich? Es sind die Jennys und Pauls, die ich einst betrunken auf Putin vollgelabert habe. Es sind die Grundschulleichen, die ich längst vergraben hatte und jetzt reanimiere, um Bestätigung für meine avantgardistische Nichtigkeit abzugreifen. Ich kenne sie nicht mehr, sie kennen mich nicht mehr. Aber wir brauchen uns doch irgendwie. Die Abwesenheit virtueller Bestätigung wäre unser Untergang. Das weiß auch Steffi M., wenn sie ein solch intimes Foto vom schutzlosen Lenni postet, sichtbar für die ganze Welt. Sein hilfloses Grinsen reicht ihr nicht, um sein Dasein zu begreifen. Erst die Bestätigung ihrer Eitelkeit durch das Like der anderen macht ihn echt.
Die Realität findet zunehmend auf einer Plattform statt, die nicht mal halbwegs clever darüber hinwegtäuschen kann, dass ihr unsere Grundrechte scheißegal sind. Schlimmer noch, die Ausbeutung jener war von Anfang die Begründung seiner Wirtschaftlichkeit. Denn User sind keine Menschen. Wir sind Datenfragmente im Strudel der Zeit und als solche Ressource.
Wir kennen die Wahrheit, doch drehen uns schneller weg als einer, der Zeuge einer Straftat wird. Weil das falsche Ich uns wichtiger ist als die Basis, die unser Zusammenleben begründet. Facebook weiß alles, muss alles wissen. Ohne Facebook gäbe es kein Erleben mehr. Alles Unmittelbare haben wir gegen einen hässlichen, blauen Daumen getauscht. Alles ist holde Eitelkeit, vermarktet und verramscht.
Das digitale Netzwerk erzeugt in uns die Illusion einen individuellen Charakter zu haben, der jedoch von ihr alleine bestimmt wird. Wir vergleichen uns mit Fremden, die uns täglich im Newsfeed begegnen. Aus dem menschlichen Wunsch heraus, dazuzugehören, sind wir bereit unseren Datenschutz und damit unsere Grundrechte bei jedem Login aufs Neue zu verwetten. Und das weiß Facebook nur zu gut.
Und was bleibt? Die Auflehnung? Es wäre der Tod der längst Gehängten.
Dieser Beitrag wurde von der wyme-Autorin Laura Nunziante für Do Not Track verfasst.
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